Die glorreichen Achtziger - Messitsch 1/1991

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Messitsch-Autor Mark Modsen hat in der zweiten Jahreshälfte 1990 in der Serie "Die glorreichen Achtziger" verschiedene Aspekte der (vor allem Berliner) Independent-Szene der späten DDR beleuchtet. Dies ist der siebente Teil der Serie.

Herbst in Peking

Grafittis sind die Höhlenzeichnungen der Neuzeit. Vielleicht weniger dauerhaft als diese, erfüllen sich doch manche gesprayten Prophezeiungen schneller, als den Adressaten lieb ist. Wer mit offenen Augen durch den Prenzlauer Berg geht, sieht irgendwo mal den kämpferischen Slogan: "Schwan-Rat-Gold ist das System, morgen wird es untergehn". Es ist eine Zeile aus der "Bakschisch-Republik", dem wohl bekanntesten Song der Berliner Gruppe Herbst in Peking.

Die Geschichte beginnt im tristen Neubrandenburg des Jahres 1987 Unter dem Namen AMNESTIE FÜR MECKLENBURG ziehen der Gitarrist Alexander Istschenko und der Sänger Rex Gülzow wüste Sessions ab, die Städtische Müllabfuhr fungiert als Sponsor. Als der Pianist Torsten Ratheischak und der Trommler Benno Verch dazukommen, nennt sich das Quartett nach einer Boris Vian-Erzählung HERBST IN PEKING. Die Band tritt ohne Bass auf, bis 1988 der Deutsch-Rumäne Mircea lonascu einsteigt. Musikalisch ist die Mischung clever zusammengestellt. Aus balladeskem Endsechziger-Sound, bodenständigem Rock und russischer Folklore basteln die fünf Herren ihren eigenen, aber angenehm geläufigen Musikstil. Der nachgiebige Beat, das perlende Fenderpiano und das tiefe Timbre des Sängers entreißen eingefleischten VELVET UNDERGROUND-Fans kleine spitze Schreie der Wollust.

Bei der obligatorischen Einstufung gibt es dann Scherereien mit den Hagerschen Kulturbütteln. Der Name könne "diplomatische Verwicklungen" hervorrufen. Mastermind Gülzow, der sich seine ersten Sporen im Showgeschäft unter anderem als Roady bei KARLS ENKEL verdiente, führt den chinesischen Kulturattaché vor, der Unbedenklichkeit attestiert. Trotzdem darf die Band nach zähen Verhandlungen offiziell nur das Kürzel HIP führen. Die Combo ist auf dem besten Wege, der Gruppe Freygang den Rang als Kultband abzulaufen. LOU REED und DOORS hier, eine Persiflage auf den rumänischen Diktator Ceaucescu da, ziehen sie das Publikum in den rauchgeschwängerten Dorfgasthäusern ebenso an wie die Avantgarde der Großstädte. Sie gelangen in die Medien und vertreiben ihre Cassette "Exit"(4/89) bei ihren Konzerten. Als die im Mai '89 vakant gewordene Stelle des Bassisten mit Torsten "Hansi" Müller (ex-Kashmir, -Götz G Point) besetzt wird, verdichten sich gerade die weltpolitischen Gewitterwolken, und die Krise des sozialistischen Systems wird Tag für Tag deutlicher offenbar. Im Frühsommer 1989 läßt die chinesische Führung aufbegehrende Studenten auf dem Platz des "Himmlischen Friedens" brutal zusammenschießen. In den Kirchen wird für die Toten der Demokratiebewegung getrommelt, während die Volkskammer artig einen Glückwunsch zur abgeschmetterten Konterrevolution depeschiert. Da platzt den Musikern der Kragen. Auf einer FDJ-Rocknacht in Brandenburg fordert Sänger Rex Gülzow die dreitausend Anwesenden zu einer Schweigeminute für die Opfer des Tienamen-Massakers auf. Fünf Tage später wird HERBST IN PEKING verboten.

Unter dem Tarnnamen SCHAUM DER TAGE tritt die Band im Untergrund auf und spielt die Musik für ein Rundfunk-Hörspiel ein. Die Flüchtlingswelle und die unnachgiebige Haltung der SED-Führung lassen viele eine "chinesische Lösung" befürchten. Auch Rex Gülzow macht sich auf den Weg nach Ungarn, das Rundfunkmaster unter dem Arm. Im Flugzeug schreibt er den Text und nimmt mit dem ebenfalls geflüchteten Bassisten den Titel in einem Westberliner Studio auf. Drei Monate später ist "Die Bakschisch-Republik" die erste legal vertriebene Independent Single der DDR.

Der 9. November führt die Gruppe wieder zusammen. Nach dem Erscheinen der Single im Dezember 1989 soll ein hastig gezimmerter Deal mit dem Osnabrücker Happy Valley-Label und der KPM Records GmbH für das Zustandekommen einer LP sorgen. Der in Ebersbrunn und beim Pariser Trotzkistenkongress aufgenommene Longplayer erscheint im Mai 1990 und verkauft sich trotz mangelhaften Vertriebes innerhalb eines halben Jahres zwölftausendmal.

Mittlerweile über das Geschäft belehrt, betreibt Gülzow seine eigene Firma unter dem Namen "Peking Records" und hat sich von der Band getrennt. Nach drei Jahren, in denen kaum neue Songs entstanden sind, will der Rest der Gruppe unter gleichem Namen ein neues Programm machen. Ihr kreatives Potential, das in den letzten Jahren in Nebenprojekte und Filme gesteckt wurde, sollte sich schon wieder bündeln lassen. Doch ob ihnen als Frontmann je wieder ein so genialer Selbstdarsteller wie Rex Gülzowüber den Weg läuft, bleibt zu bezweifeln.

Die All Tomorrow Parties-Bands

Zuerst stand auch HERBST IN PEKING auf der Wunschliste des Amiga Produzenten Matthias Hoffmann, der in den Wirren des Wendeherbstes geschickte Profilierungsarbeit betrieb. Er biß bei Bandleader Gülzow auf Granit. Der faselte etwas von Connections mit John Cale und verärgerte damit Big Savod. Für eine "Quartett"-Single eingeplant, dirigierten die Youngsters in Wahrheit das Casting. Als Schülerband 1985 in Meißen gegründet, trug die Kapelle so phantasievolle Namen wie PLUTONIUM DACHSTEIN oder BILLY SHEARS & THE ONE AND ONLY. Reinhard Grahl, Vinco Hake und Andi Meier besorgten sich 1987 Jobs in Berlin und wohnten in einer Art Kommune zusammen. Ende 1988 kam Norbert Knaack von der inzwischen aufgelösten Ska-Band Torpedo Malsdorf als Saxophonist zu BIG SAVOD. Die Gruppe hatte nicht nur zeitweise einen prall gefüllten Auftrittskalender, sondern trieb sich auch oft im Studio herum. Bei einer Radiosession gefiel den Musikern der Akkordeonsound so gut, daß sie sich den Akkordeonspieler Jörn Rohde als Dauerleihgabe von Mikele Baresi holten. BIG SAVOD, die in den Clubs der Republik für heiße Pogostimmung sorgten, wirken auf großen Bühnen rührend überfordert. Im Vergleich zu den TESTBILDTESTERS, mit denen sie ihr bisher größtes Konzert in der Werner-Seelenbinder-Halle gaben, erinnerten sie eher an ein ungelenkes Primanerensemble. Massenspektakel weniger schätzend, schrieben Reinhard und Andi Musiken für Undergroundfilmer und bastelten an John Lennon­Coverversionen."

A.G. Schellheimer ist gleichfalls ein stilles Wasser. Der Chef der am 11.11.1988 debütierenden Gruppe Kampanella is Dead begann seine musikalische Karriere im Kielwasser der Beatles. Als Jugendclubleiter wegen latent oppositionellen Neigungen mehrfach gemaßregelt, schlug er sich zuletzt als Gärtner durch, als er von Amiga das Plattenangebot erhielt. Beim Arrangement des Titelsongs war er federführend, für den musikalischen Kopf des ATP-Projekts will er sich dennoch nicht ausgeben. Der begnadete Songwriter ist gerade mit der Rhythmusgruppe von B.Crown im Studio Krex bei der Vorproduktion zu einer eigenen LP.

B. CROWN (Beggars Crown) waren in erster Linie Peggy und Alex, die im September 1988 nach län­ gerer Unterbrechung beschlossen, gemeinsam Musik zu machen. Beide kamen aus Salzwedel nach Berlin und kannten sich schon aus den Tagen bei Rosengarten. Mit verschiedenen Musikern, so auch mit einer Cellistin, versuchte der Vocalist Alex eine mysterien schwangere Aura zu erzeugen. Weil ihnen eine polnische Zeitung den Ruf andichtete, Vorgruppe von BAUHAUS gewesen zu sein, wurden sie im Oktober 1989 in Polen begeistert gefeiert. Alex, der ständig bemüht war, seinem Dasein das Image des Besonderen zu geben, geriet oft in Widerspruch zu seinem perfektionistischen Anspruch und eigener Schlampigkeit. So wechselte der Gitarrist Peggy im Herbst 1990 zu Kashmir. Der Bassist Frank Habetha und der Trommler Pit Findig Mittig (er war Sprecher in der legendären Rundfunk-Familie Findig) unterstützen jetzt A. G. Schellheimers K. I. D.

Da HERBST IN PEKING für eine Amiga-Produktion nicht zu haben waren, entschied sich Produzent Hoffmann schließlich für The Fate. Jörn(voc, g), Jens(g, voc), Micha (bass) und Ed (dr) bilden seit April 1988 die Besetzung der Band. Die vier kennen sich bereits aus der Schule und lieferten mit Hits wie "Krueger'", "The Same Way" und "Hold Me" die absoluten Abräumer der Clubszene. Bei der Sampler-Produktion blieben THE FATE anfänglich außen vor, bis sie auf der Tournee für die Platte vorbehaltlos in die "Familie" integriert wurden. THE FATE bringen nicht nur recht humorige Lyrics, sondern sind auch auf Tour ein paar spaßige Vögel. Zur Record Release Party des ATP-Samplers setzten sie dem verdutzten Publikum ein völlig neues Programm vor und bedankten sich beim Z Records­Management für die dilettantische Organisation des ATP-Projekts.

Wäre Andreas Welskop (Manager in der Agentur "Canibal Cartell") nicht gewesen, der trotz immer wieder verschobenem Veröffentlichungstermin auf eigenes Risiko eine Tour organisierte, es hätte sich nichts bewegt. Wer heute versucht, die "All Tomorrows Parties'"-LP im Ladenregal zu finden, wird lange suchen müssen. Der Vertrieb funktioniert nach wie vor schleppend und Anschlußverträge für die beteiligten Gruppen liegen bis dato nur für KAMPANELLA IS DEAD vor. Doch nach welchen Kriterien man im Rüttelsieb der frühkapitalistischen Auslese hängen bleibt, ist schwer nachvollziehbar.

Der Amiga- und Z-Nachfolgerin Zong die Schuld zuzuweisen, wäre zu einfach. Auch die Gruppen finden sich schwer in die neuen Verhältnisse. Warum auf diese Weise allerorten die halbe kulturelle Erbmasse der DDR den Bach runtergehen muß, ist mir einfach rätselhaft.

Autor: Mark Modsen